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Dr. Rainer Beßling
Text zur Ausstellungseröffnung Januar 2010
Der berühmte Fries des Pergamon-Altars, datiert um 185 v. Chr., schildert den Sieg der Götter über die
irdischen Giganten und feiert zugleich den Triumph der realen Mächtigen Pergamons über die gegnerischen
Streitkräfte. Eine mythologische Darstellung und ein Historienbild, mit dem Staatsführer ihre eigene
Geschichte in Stein meißeln lassen und ihre Herrschaft für das Gemeinwesen und die Nachgeborenen fassbar
legitimieren.
Christine Vogelsang hat das Pergamon-Museum häufig besucht. Angeregt durch ein Ausstellungsprojekt des
Berliner Hauses las sie „Die Ästhetik des Widerstands“ von Peter Weiss wieder neu. Der Autor versucht
in seinem Roman-Essay, ein Gesamtbild der faschistischen Epoche aus der Perspektive des Widerstands zu
zeichnen. Dabei soll die Rolle der Kunst-Erfahrung, also die Funktion der Ästhetik im politischen Kampf
der Linken, dargestellt und untersucht werden. Das Buch beginnt 1937 an einem konspirativen Ort vor dem
Pergamonaltar auf der Berliner Museumsinsel. Drei junge Kommunisten diskutieren Möglichkeiten, das
kulturelle Erbe für den antifaschistischen, sozialistischen Kampf zu nutzen.
Peter Weiss schreibt über die Darstellung des Göttertriumphs in dem Fries:
"Die Eingeweihten, die Spezialisten, sprachen von Kunst, sie priesen die Harmonie der Bewegung, das
Ineinandergreifen der Gesten, die anderen aber, die nicht einmal den Begriff der Bildung kannten, starrten
verstohlen in die aufgerissenen Rachen, spürten den Schlag der Pranke im eigenen Fleisch." Fachexpertise
steht gegen die Einfühlung der Geschlagenen und Unterdrückten.
"Die Ästhetik des Widerstands" kombiniert authentische und fiktive Figuren, erzählerische und reflexive
Partien. Es gibt zahlreiche dialogische Abschnitte, die widersprüchliche Positionen gegeneinander setzen.
In konstruktiver Dialektik sollen Rede und Gedankenbewegung zu neuen Erkenntnissen und Folgerungen genutzt
und in Handlung und Veränderung überführt werden. In Montage und Collage, auf eine filmische Weise
verbindet und konfrontiert der Autor verschiedene Orte, Zeiten, Figuren und Standpunkte miteinander.
Christine Vogelsang verwendet in ihrer Auseinandersetzung mit diesem Buch, das zur Rolle der Kunst ruhig
häufiger befragt werden sollte, den Siebdruck. Das grafische Verfahren lässt sich in vielerlei Hinsicht mit der eben beschriebenen literarischen Strategie vergleichen. In den Blättern lagern Szenen, Epochen und Figuren über- und nebeneinander. Die Ebenen reiben sich und treten so in einen Dialog.
Drei Werkgruppen können innerhalb von Christine Vogelsangs Arbeiten zu diesem Themenkreis unterschieden
werden. Da sind zum einen rotgrundige Blätter, in denen Textausschnitte auf Fries-Szenen gelegt worden
sind. In kleineren Formaten erinnert die Künstlerin an Ereignisse aus der jüngeren Geschichte sozialer
Auseinandersetzungen und politischer Kämpfe: wir sehen Davids berühmtes Marat-Bild als Verweis auf die
französische Revolution, ein Opfer der Gewalt beim G8-Gipfel in Genua ist schemenhaft zu erkennen, dann
die Aufnahme Benno Ohnesorgs, dessen Tod die Studentenbewegung radikalisierte, ein Bild, das Assoziationen
zum Urthema der Mutter mit dem sterbenden Sohn weckt. Schließlich gibt es noch eine Gruppe mit freieren,
eher formal betonten Blättern als Spiel mit Architektur, mit antiker Formensprache, mit Strukturen und
Flächen.
Die Künstlerin widmet sich in der ersten Gruppe besonders zwei Protagonisten des mythischen Machtkampfes:
zum einen Herakles, der in dem Fries fehlt, und der Erdmutter Gaia. Weiss spricht dem einzigen Sterblichen
unter der Götterfraktion eine spezielle Rolle zu: Herakles wird zum Prototypen des Handelnden, die
Leerstelle im Altar und in der Gründungsurkunde des Pergamon-Regimes muss der Betrachter füllen, das
heißt einnehmen. Er ist Teil der Kämpfe und er hat seinen Platz in der Geschichte zu finden. Er muss
in der Beurteilung der Geschichte eine Position beziehen, muss Partei ergreifen, Konsequenzen für sein
Handeln ziehen.
Christine Vogelsangs Siebdrucke spüren diesem Auftrag nach, greifen ikonenhafte Szenen auf, ohne plakativ
zu werden: Der Blick pendelt zwischen den Schichten, fokussiert bestimmte Flächen und Figuren, knüpft
unterschiedliche Fäden. Die Künstlerin setzt aber auch Freiräume und Unschärfen. Ganz zusammenschließen
lässt sich der Motivkreis nicht, die Komposition behält ihre Offenheit, das Bild seinen
Aufforderungscharakter an den Betrachter. Gegenwärtige Kunst schließt hier an den klassischen Kanon
an. Und sie knüpft an eine moderne Auseinandersetzung mit dem klassischen Kanon an, die nach der Rolle
der Kunst nicht nur als Chronik der früheren Kämpfe fragt, sondern auch nach ihrem Beitrag zu den
gegenwärtigen und künftigen.